Kooperativ und staubfrei im hybriden Raum

Zu ihrem 75. Geburtstag fanden die Darmstädter Ferienkurse zum 50. Mal statt
Festivalkritik für die neue musikzeitung (Archiv)

Als acht in der Turnhalle verteilte große Trommeln den kollektiven Trommelwirbel zur letzten Uraufführung im Abschlusskonzert einleiteten, wurde einem klar, was man über die letzten anderthalb Jahre so schwer vermisste: Es sind die extravaganten Materialschlachten, die Bassmarimbaphone, E-Gitarren-Sextette und körperlichen Klangüberwältigungen, die die Pilgerfahrt zu den metropolfernen Festivals auszahlen. Rebecca Saunders Dust III, eine erweiterte Ensemble-Neuauflage des Jetzt-schon-Klassikers Dust für Schlagzeug Solo, war der begeisternde Abschluss der diesjährigen Darmstädter Ferienkurse. Die Biennale fand vom 31. Juli bis 11. August zum nun 50. Mal statt und wurde pandemiebedingt so unfreiwillig wie passend in das 75. Jubiläumsjahr verschoben. Im Programmhefttext zu Dust III verweist der Schlagzeugdozent Christian Dierstein auf das sprichwörtliche Aufwirbeln von Staub als Ablagerung der Vergangenheit, Überresten und Traditionen. In 75 Jahren Ferienkursen hat sich da so einiges angesammelt: geschichtsträchtige Namen geistern in den Schulgängen, ästhetische Konventionen und Routinen der Rahmensprengversuche laufen Gefahr sich putzresistent in den Erwartungen der Besucher*innen abzulagern.

Thomas Schäfer, künstlerischer Leiter seit 2009, schwingt so Ausgabe für Ausgabe den organisatorischen Staubwedel in Form mal großer, mal kleiner Anstöße, um die beständige Erneuerungsinstitution sauber zu halten. So soll in diesem Jahr das Motto „Kooperation gestalten“ Zusammenarbeit und kollektiven Austausch in den Fokus rücken, ganz entgegen den oft solitären Geniefiguren der Vergangenheit. Eher als Wirbelsturm allerdings beeinflussten die äußeren Umstände die Gestaltung: Die Kompositionskurse fanden fast ausschließlich online statt, lediglich die Teilnehmer*innen der Instrumentalkurse und Workshops waren vor Ort in der Lichtenbergschule und der benachbarten Akademie für Tonkunst. Dort wurde souverän mit der Lage umgegangen – die übliche Zertifikat-Vorzeigepflicht strikt, eigene Schnellteststelle im Schulhaus, Maskenpflicht und das stille Mutmaßen, ob die querdenkenden Szenevertreter*innen, von denen es inzwischen doch so manche prominente gibt, jetzt aus beleidigtem Protest schwänzen. Die Konzerte wurden kostenlos gestreamt und waren fast alle für Präsenzpublikum zugänglich. Andere Programmpunkte wie Lectures, Diskussionen, das abwechslungsreiche Videoformat Shorts und die Performances im Open Space mit erfrischendem Guerillacharakter waren nur über den Bildschirm erlebbar. Das schafft zwar eine globale Erreichbarkeit und Partizipationspotenzial, die ein internationales Festival durchaus bereichern, doch gleichzeitig bleibt ein Großteil der jungen Künstler*innen so dennoch allein zuhause. Darmstadt ist immer auch ein Ort der Begegnung, ob beim feriencampmäßigen Essen auf der Wiese, dem bierkatalysierten Streit nach Aufführungen oder dem täglichen Stäbchen-in-die-Nase. Ohne Komponist*innen fehlt da einfach etwas. Mit dem eingerichteten Gather-Portal wurde zwar eine virtuelle Möglichkeit des sozialen Herumlungerns zwischen Streams und Zoomerei in niedlicher Pixeloptik geschaffen, aber diese Räume waren meistens leider auch nur mit kontaktbeschränkender Leere gefüllt.

Vor Ort die Gegenseite: Es mag an der Online-Ermüdung der vergangenen Monate liegen, dass viele die gemeinsamen Pausen den digitalen Formaten vorzogen. Man war sich zwar dank löblicher Programmkommunikation sehr wohl bewusst, was wann läuft, aber den meisten schien die Gewissheit zu genügen, alles Interessante nach Festivalende noch on demand sehen zu können. Dass der demand nach Streams zurückhaltend war, zeigt sich auch in den Public Viewings, die nach den ersten Tagen ernüchtert eingestellt wurden. Das gut gemeinte kooperative Zusammenspiel im hybriden Raum wird in der Realität der Teilnehmendenträgheit zum Nebeneinander der wenigen Berührungspunkte. Dass beim zurecht umjubelten Konzert der Vokalsolisten Stuttgart mit Werken libanesischer und ägyptischer Komponist*innen wird zum unangenehmen Höhepunkt der Hybriddiskrepanz: Die Videos von Panos Aprahamian als wichtige Bindeglieder zwischen den Stücken sind lediglich im Stream seh- und hörbar, während das Saalpublikum das Stillleben der leeren Turnhallenbühne erleben darf – auch wenn so ein Umkehren der Erlebnisprivilegien natürlich seinen emanzipatorischen Reiz hat!

Nach 15 Konzerten mit rund 30 Uraufführungen mit beeindruckender personeller und ästhetischer Diversity, bleiben neben der eingangs erwähnten Saunders-Erweiterung die Nachbauten der exotischen Instrumente von Harry Partch des Ensemble Musikfabrik, der erfrischend-wütend machende „Not: Art, Not: Non-Art“-Spagat des Sextetts Apartment House, Elena Rykovas Asympotic Freedom III nachts in der Orangerie und allen voran die vielen während den Kursen entstandenen Darbietungen der jungen Teilnehmenden im Gedächtnis. Doch umso mehr bleibt die Freude auf zukünftige Ferienkurse, wieder unter alten Bedingungen, doch mindestens genauso frei von altem Staub.

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