nostalgisch und unique

Programmheftbeitrag zu La Cage aux Folles am Staatstheater Kassel

Die Verleihung der Tony Awards, quasi die Oscars des Musicals, sorgte 1984 mächtig für Aufmerksamkeit: Harvey Fierstein und Jerry Herman räumten mit La Cage aux Folles ab, und der Komponist kommentierte seinen Gewinn: „There’s been a rumor around for a couple of years that the simple, hummable show tune was no longer welcome on Broadway. Well, it’s alive and well.“

Am Broadway zeichneten sich über die siebziger Jahre große stilistische Umbrüche ab, wie Hairs chartfähiger Pop, Andrew Lloyd Webbers Rockopern oder Stephen Sondheims beißende Dissonanzen und strenge Konzepte. Ausgerechnet dessen gefeiertes Sunday in the Park with George verlor bei den Tonies nämlich gegen La Cage, worüber heute noch erstaunlich kontrovers gestritten wird.

La Cage erinnert an die goldenen Zeiten gut gelaunter Revues, mit traditionellen Songformen, Nummernabfolgen und typisch jazziger Harmonik, die an eine ‚gute alte Zeit‘ von Vaudeville und Cabarets erinnern. Dagegen ist der Stoff selbst alles andere als konservativ, sondern ein geschichtlicher Meilenstein für die queere Theatercommunity. Schon Jean Poirets Original und die sehr erfolgreiche französische Verfilmung erregten Aufmerksamkeit. Harvey Fiersteins Adaption für den Broadway war dann für das Jahr 1983 geradezu revolutionär: Das erste Stück, das ein schwules Protagonistenpaar so sehr in den Mainstream rückte – sogar ein gealtertes und explizit glückliches Paar! Die Welt von Travestie, verspielter Diversität und bedingungsloser Akzeptanz ist die Normalität, in die die Ouvertüre das Publikum katapultiert. Umgekehrt ist es erst Jean-Michel, der die heteronormative Dissonanz von außen bringt.

Der Tonsatz und die Orchestration evozieren nicht zufällig die 1940er und 50er, den Geist von Tin-Pan-Alley oder Rodgers & Hammerstein. Die Werte von Familienzusammenhalt, (monogamer) Liebe und Selbstakzeptanz sind im Grunde traditionalistisch, widerständig ist erst, auf wen sie bezogen werden. Eine ‚gute alte Zeit‘ bleibt höchstens die Schablone: So ist es doch der musikalische Höhepunkt des Stücks, der dem erzkonservativen Antagonisten fortissimo ins Gesicht ruft: „Die schönste Zeit ist jetzt, nicht gestern, nicht vor langer Zeit!“

La Cage sorgte nie für die Kontroversen und Proteste, die man vielleicht erwarten würde. Selbst auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Queerfeindlichkeit inmitten des AIDS-Massensterbens der Achtziger war das Stück von Beginn an ein Publikumserfolg, lediglich ein paar Kritikern und manchen Stimmen der Community politisch zu zahm. Das Subversive ist dicht verpackt in einem well-made-play, in zuckersüßer Tonalität, quirligen Bläsern und ansteckender Komik. Regisseur Matthew Wild legt großen Wert auf ebendiese hintergründige Subversion, schmackhaft gemacht durch exzellente Unterhaltung. Für die sorgen nicht nur die entsprechend pompösen Drag-Kostüme (Conor Murphy) und fordernden Choreografien (Louisa Talbot), sondern auch die spezielle Raumsetzung durch Hausszenograf Sebastian Hannak, die virtuos mit den Übergängen von Privatem und Öffentlichen, Show und Backstage spielt und stets die Nähe zum Publikum sucht.

Genretypisch, aber in einer seltenen Konsequenz, erfährt jede Nummer in La Cage eine Reprise: Eine spätere Wiederholung in neuem Kontext, die die Entwicklung der Figuren oder der Welt um sie herum offenlegt. Georges spiegelt das Liebeslied seines Sohns, die Akkordeonmelodie der Strandszene erinnert auch in Krisenmomenten an die gut gealterte Partnerschaft, und Jean-Michel bringt das vorwurfsvolle Schau doch mal da seines Vaters zur späteren Versöhnung. Selbst die belanglos schunkelnde Promenadenmusik unterliegt später dem öffentlichen Gossip zur Beziehungskrise und vertont stummfilmhaft die Eile zum Restaurant. Diese Technik erfährt ihren wesentlichen Twist zum Finale des ersten Akts, wenn Albin/Zaza sein Ensemble in der Wiederholung der Eröffnung jäh unterbricht. Aus Wir sind, was wir sind, wo sich alles als eine riesige Show präsentiert, wird schließlich das bedingungslose Betonen der eigenen Identität. Die scheinbare Trennung von Performance und Identität wird als Irrglaube offengelegt und das Herunterreißen der Perücke ist nicht nur eine traditionelle Drag-Geste, sondern selbstermächtigendes Heraustreten aus einer Rolle, egal ob sie nun privat oder gesellschaftlich konstruiert ist.