Feeling Electric

Programmheftbeiträge zu NEXT TO NORMAL am Staatstheater Kassel

Ein kurzes, sich wiederholendes Klaviermotiv mit dem Titel Night eröffnet das Musical in den dunklen Saal hinein. Kein kräftiger Beginn und erst recht keine ausufernde Ouvertüre – dafür aber die kleine, schwebende musikalische Idee, die immer wieder im Verlauf des Stücks zurückkehrt. 1998. Der 27-jährige Brian Yorkey sieht in den Fernsehnachrichten eine Frau, die mit Elektroschocks behandelt wird. Zusammen mit dem jungen Komponisten Tom Kitt verarbeitet er diesen Impuls noch im selben Jahr für einen Musical Workshop zu dem zehnminütigen Mini-Musical Feeling Electric. Einige Jahre, Karriereumwege und Überarbeitungen später wächst das Stück zu dem Musicalhit, der 2009 sein Broadway-Debüt feierte. Neben mehreren TonyAwards gewann es als eines von nur zehn Musicals überhaupt den Pulitzer Price for Drama. Bei der mehr als verzehnfachten Stücklänge bleibt die Elektrizität weiter ein roter Faden und dient nicht nur als Behandlungsmittel, sondern auch als Hoffnungssymbol. Zuerst fragt Diana in Dr. Maddens Hypnoseversuchen schnippisch, ob man auf dem Gang in ihr Unterbewusstsein hinab nicht besser das Licht einschalten sollte. Nach ihrem Suizidversuch beruhigt Dr. Madden den besorgten Ehemann wegen der Elektrokonvulsionstherapie: „Der Strom, der fließt, reicht kaum, um eine 100-WattBirne zum Leuchten zu bringen“. Kurz darauf greift auch Dan das Bild auf, wenn er Diana ermutigt, der Behandlung zuzustimmen: Bei ihnen im Haus zeigt nachts eine leuchtende Lampe, dass darin Leben herrscht, und die Chance auf Besserung ist auch so eine schimmernde Hoffnung für ihr Überleben. Während dann tatsächlicher Strom durch Dianas Körper geführt wird, kommt das Night-Motiv wieder und bringt Verdunkelung in Natalies Leben mit sich. Sie verfällt Drogen, entfernt sich von Henry und zeigt immer mehr Ähnlichkeiten zum Schicksal der Mutter. Bipolarität ist zwar keine klassische Erbkrankheit, doch es gibt eine genetische Prädisposition, die Angehörige besonders anfällig macht. Erst ganz am Ende des Stücks deckt sich auf, was es mit dem kleinen Klaviermotiv auf sich hat: Nach Natalies „Wir brauchen Licht. Erstmal brauchen wir mehr Licht“ in die Dunkelheit des Hauses hinein, dient es als instrumentale Begleitung im Schlusssong. Das Lied, das schon zentraler Bestandteil der Workshopfassungen des Stücks war, schimmert in das große Unbekannte, das nun folgen wird: „Es gibt ein Licht“.

Back to Normal?

Wenn sich der Vorhang zu Philipp Rosendahls Inszenierung von Next to Normal am Staatstheater Kassel hebt, offenbart sich ein eindrucksvoller Anblick: Eine fast acht Meter hohe Bühnenbildkonstruktion aus zwölf wabenförmigen Zellen scheint auf den ersten Blick ganz im Widerspruch zu der kompakten Intimität des Stücks zu stehen. Mit nur der Kernfamilie und zwei Nebencharakteren bewegt sich die Handlung fast kammerspielartig immer sehr eng an den Figuren und öffnet dadurch viel Raum für psychologische Feinheiten. Das spiegelt sich in der Musik wieder: Das Rockmusical springt munter durch die vielfältigen Stilrichtungen der Singer-Songwriter-Ästhetik der frühen 2000er und reflektiert dabei, manchmal energisch und einfühlsam, manchmal überspitzt und ironisch das Innerste der Sänger:innen nach außen: Natalie lässt ihre Zukunftspläne aus einer Mozartstilkopie erwachsen, Dina verpackt ihre Sehnsucht nach dem aufregenden Leben vor der medikamentösen Gefühlsbetäubung als bodenständige Countryballade und die kollektive Psychopharmaka-Begeisterung wird zum skurrilen My Favorite Things Zitat.

Brigitte Schima schuf mit dem Waben-Bühnenbild ein visuelles Äquivalent. Mit seiner beengenden Zweidimensionalität mutet es weniger wie ein Vorstadthaushalt an, als wie ein Ameisenkasten für Verhaltensstudien oder eine sehr schematische Familienaufstellung zu Therapiezwecken. Die sechs Figuren bewegen sich durch das Gestell hin und her, sind aber doch wie in ihren jeweiligen Zellen gefangen. Starre physische Barrieren trennen das familiäre Miteinander, Gemeinsames und Widersprüchliches erschließt sich erst für die Außenperspektive des Publikums. Der Wunsch nach Normalität ist gleichzeitig ein Wunsch nach dem Aufbrechen der eigenen Gefängniszellen und der sozialen Isolation. Das gilt für die Figuren der Handlung genauso wie für die Darsteller:innen: Sie sind gezwungen zu interagieren und sich synchron zu bewegen, ohne sich gegenseitig wirklich sehen zu können. Mit der Elektrokonvulsionstherapie scheint der Ausbruch aus den Zellen zu Beginn des zweiten Akts auch tatsächlich zu passieren. Statt der erdrückenden physischen Barrieren bleibt eine Bühne, die so leer ist wie Dianas Erinnerungen. Dan erkennt schnell seine Chance, den Raum mit etwas augenscheinlich Besseren zu füllen und konstruiert eine neue Lebensrealität. Doch schnell offenbart sich, es waren nicht nurdie physischen Barrieren, die die Kommunikation und das Interagieren verhinderten. Die Unmöglichkeit des familiären Miteinanders ist nachhaltig internalisiert und die Figuren stehen sich selbst ebenso wie den anderen im Weg. Besonders die Beziehung der beiden Eltern ist geradezu symptomatisch: Dan als kümmernder Ehemann überschreitet mehrfach Grenzen, entmündigt seine Frau und verdrängt in seiner selbstzerstörerischen Co-Abhängigkeit das eigene Trauern um seinen Sohn. Auf Dianas Vorwürfe, sie nicht zu verstehen, singt er verzweifelt: „Kein Mensch kennt dich wie ich’s tu“. Ein Phänomen, das man als Gaslighting bezeichnet, also gezieltes Verunsichern dadurch, sich selbst plötzlich in die Opferrolle zu drängen. Wenn dann später im Song noch Gabe zum Duett hinzutritt, zerren die beiden männlichen Gegenpole aggressiv an der Selbstständigkeit der Mutter.

Was kümmert mich die Scheiße im Normalfall? Wir sind doch kein Normalfall mehr seit Jahren!

Es ist der ständige Drang zur Normalität, der die Familie Goodman behindert. Ob in der Mathematik, für Messungen oder auf rechtsextremen Wahlplakaten – „normal“ wird immer von einer (scheinbaren) Mehrheit definiert. Wenn Natalie und Diana kurz vor Ende des Stücks sich namensgebend einigen: „I don’t need a life that’s normal – that’s way to far away. But something… next to normal would be okay“, zeigt das, wie nachhaltig die internalisierten Vorstellungen einer normalen Psyche, einer normalen Ehe oder einer normalen Jugend auch nach all dem Erlebten noch sitzen. Die Familie misst sich an dem normativen Rahmen einer Gesellschaft, die für die Realität psychischer Krankheiten keinen Platz dort vorgesehen hat.

Doch trotz des offenen Endes ist auch die Chance auf eine tatsächliche Alternative im Stück schon angelegt: So wie Natalie immer wieder Charakterzüge ihrer Mutter zeigt, spiegelt Henry den naiven Optimismus des jungen Dan – das heißt aber lange nicht, dass sich die Geschichte wiederholen müsste. Wenn Diana am Ende ihren Mann verlässt, ist es zwar kein Happy End für ihr Liebesleben, aber sicherlich ein erster Bruch mit den tiefsitzenden Beziehungsentwürfen.

Und wenn schließlich Dan im neuen Alleinsein mit seinem Trauma konfrontiert ist, spiegelt das die vielleicht wichtigste Facette des Musicals. So wie Next to Normal es schafft, die vom Mainstream immer noch vernachlässigte Realität psychischer Erkrankungen anzusprechen, macht er aus plötzlicher Akzeptanz etwas, das vorher im Stück kein einziges Mal passiert ist: Er nennt seinen Sohn beim Namen.