Macht und Schicksal

Programmheftbeitrag zu La forza del destino am Staatstheater Kassel

Giuseppe Verdi war 45 Jahre alt, als er nach der Premiere von Un ballo in maschera 1859 das Komponieren an den Nagel hängte. Im Laufe seiner Karriere steckte der im ganzen Land gefeierte Tonkünstler viel Geld, Zeit und Willen in die italienische Revolution – folgerichtig verpflichtete er sich nun nach der Befreiung seines Heimatlandes als Abgeordneter dem Parlament. In einem Brief schreibt er: „Wie du weißt, bin ich jetzt ein vollständiger Landsmann. Ich hoffe, dass ich nie wieder die Versuchung spüren werde, meinen Stift in die Hand zu nehmen“, ironischerweise an den Librettisten seiner nächsten Oper, Francesco Maria Piave. Es dauerte keine zwei Jahre, bis mit einem vielversprechenden Auftrag für das Kaiserliche Opernhaus Sankt Petersburg die Politikerlaufbahn zugunsten des Komponierens wieder vorbei war. Die neuste Oper nach dem Drama Don Álvaro o la fuerza del sino des spanischen Romantikers Ángel de Saavedra sollte Verdi nach der Uraufführung 1862 noch einige Jahre beschäftigen, zu wenig rund war die chaotische Handlung, zu düster war der Schluss des Originals, das mit Alvaros Verfluchen der gesamten Menschheit und seinem Suizid endete.

Die bis heute gespielte Mailänder Fassung von 1869 behob vieles davon, auch die populäre Ouvertüre ist ein Ergebnis der Revisionen. Gleich zu Beginn stößt sie mit dem Schicksalsmotiv, einer dreifachen Tonwiederholung der Blechbläser, den Lauf der Dinge an. Das unmittelbar folgende Schicksalsthema der Streicher treibt die Musik – genauso wie später die Figur der Leonora – rastlos in den Abgrund. Diese in der ganzen Oper ständig wiederkehrenden Bausteine sind die musikalische Manifestation der Macht des Schicksals: starr und unveränderlich, gleichzeitig bedrohlich jagend. Auf der Bühne von Regisseur und Bühnenbildner Valentin Schwarz thront wie in der Partitur über den Figuren drohend das „Fatum“, das mit all seinen kulturgeschichtlichen Bedeutungsebenen im Libretto von den Liebenden genauso besungen wird, wie von der Wahrsagerin Preziosilla oder den Klosterbrüdern.

Bei genauerem Blick offenbart sich, dass es aber weniger die Macht ist, die vom Schicksal ausgeht, sondern es das Schicksal ist, das durch Macht bestimmt wird: Es ist der patriarchale Vater, der das verhängnisvolle Liebesverbot bestimmt. Egal, ob es auf Alvaros ethnischer oder seiner Standes-Herkunft fußt, es bleiben doch beides allzu künstlich von außen konstruierte Wertmaßstäbe. Die Kostüme von Otto Krause projizieren mit ihrer außerweltlichen Surrealität die schicksalshafte Lebensrealität auf die Figuren selbst: Die liebende Tochter Leonora ist schon allein optisch gefangen in einer toxischen Ko-Abhängigkeit zum strengen Vater, ihre Liebe zum exotisierten Alvaro ist das, was die familiäre Mode streng geteilt. Als wohl unschuldigste Figur der Handlung ist sie auch nach der Befreiung von einem verinnerlichten Schuldgefühl geplagt, das sie mit Blut an den Händen in die vollkommene Isolation treibt. Gleichzeitig erscheint ihr Bruder Carlos als marionettenartige Verkörperung des väterlichen Fluchs über die Tochter. Wie eine blutrünstige Variante Hamlets bestimmt einzig der Auftrag seine Existenz und durchkreuzt jeden Versuch des Zweifelns und des eigenständigen Lebens. So fällt Carlos’ geschworene Freundschaft zu Alvaro dem internalisierten Ehrverständnis und Rachetrieb zum Opfer; dabei sind die Szenen der beiden im Grunde die einzigen echten Liebes-Duette der Oper, während das eigentliche Liebespaar die meiste Zeit getrennt voneinander verbringt.

Der schicksalsstiftende historische Kontext des Krieges beruht auf verschiedensten europäischen Machtinteressen. Außerdem entfaltet Alvaros Inka-Biografie noch die globale Dimension kolonialer Hierarchien, die sein Leben auf der Suche nach der Wiederherstellung – der ebenfalls väterlichen – Ehre bestimmt. Getrieben von all dem breitet sich so in Forza eine irrwitzige Handlung voller unglücklicher Zufälle quer durch die Jahrzehnte und Nationen aus. Die tragischen Schicksale und deren Wurzeln haben in ihrer Aktualität bis heute nichts eingebüßt, folgerichtig setzt die Kasseler Inszenierung statt einer einfachen Aktualisierung auf einen eigenen Weg von Abstraktion und psychologischer Detailbetrachtung. Die politische Schlagkraft des Stoffs zu seiner Entstehungszeit wird übersetzt in eine überzeitlich zwingende Parabel. Auf der Bühne entstehen eigene Logiken jenseits von zeitlicher oder geographischer Verortung. Bedrückende Räume aus Licht und Dunkelheit formen ein Gefängnis der Zwänge der Figuren, ehe sich – wie in der Musik – immer mal wieder eine hoffnungsvolle Weite öffnet: Im Schicksalsthema der Ouvertüre trägt der kleinstmögliche Tonschritt, der Seufzer von e zu f, die schicksalshafte Nähe von Glück und Abgrund in sich, diese Töne entscheiden nämlich, ob als Akkord a-moll oder F-Dur erklingt. Auch das berühmte Klarinettensolo zu Beginn des dritten Akts oder die unheilvollen Mollanleihen im Nachspiel des Mönchschores spielen mit dieser unklaren Ambiguität der Tongeschlechter.

Daneben gibt es im Stück eine ganze Reihe von Genreszenen in Form von Tänzen, Chören und Intermezzi, die oft keine Funktion in der Handlung einnehmen. Sie dienen aber der musikalischen Abwechslung und bereichern gerade im dritten Akt den Verismo des Soldatenlagers. Valentin Schwarz knüpft diese Szenen erst recht eng an die Protagonist:innen, sodass deren wechselhafte Beziehung zu Außenwelt und Mitmenschen auf verschiedenste Weise offenbar wird – zum Beispiel mit Verdis Darstellung der Geistlichen. Der Komponist war gerade in seiner mittleren Schaffensphase sehr kirchenkritisch. Das konzentriert sich vor allem auf die komische Figur des Fra Melitone, für den der Komponist die Predigt aus Schillers Wallensteins Lager als Fremdmaterial in das Libretto einfügte. Melitone ist die Überzeichnung der Bigotterie seiner Institution, er mault Neuankömmlinge an, verhöhnt Bettler und verdonnert Soldaten als dogmatischer Kriegsprediger an die Front. Gleichzeitig wird der scheinbare Gegenpol des Pater Guardian in der Interpretationsgeschichte oft von derselben Person gesungen, wie der verf luchende Vater. Wo Leonora ihrem Vater entkommt und schließlich beim Pater Schutz zu finden glaubt, ist doch die verordnete Isolation bis zum Tod keine wirklich barmherzige Ausübung christlicher Vergebung. Auch Alvaros Erlösung des revidierten Ende bleibt ohne wirklichen Ausblick, was nun überhaupt folgen kann. Die Macht des Schicksals bleibt bis zum bitteren Ende das Resultat der in Stein gemeißelten Werte der ihr ausgelieferten Menschen.