Programmheftbeitrag zu Die Hamletmaschine am Staatstheater Kassel
Heiner Müllers Theatertext Die Hamletmaschine von 1977 ist eine vielschichtige Collage, die Shakespeare mit zeitgenössischen politischen Konflikten verknüpft. Die Vertonung durch Wolfgang Rihm ein Jahrzehnt später legt diese Stilbrüche radikal offen, anstatt musikalische Bindeglieder zu schaffen. Der Text traf den Komponisten mit Mitte 30 wie eine Offenbarung, suchte dieser nach seinen vorherigen Opern nach neuen theatralen Wegen, sein Schaffen fortzuführen. Nicht umsonst heißt Die Hamletmaschine in seinem Oeuvre erstmals nicht mehr „Oper“, sondern eben „Musiktheater in fünf Teilen“.
Heiner Müller und Wolfgang Rihm, beide auf ihre Weise beeinflusst von den historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts, suchten in ihrem Werk nach neuen musikalischen und sprachlichen Erzählweisen. Ihr Ansatz spiegelt das Bedürfnis, traditionelle Erzählformen zu hinterfragen und eine neue Theatersprache zu entwickeln, die in der Lage ist, die Zersplitterung der Geschichte nach den Weltkriegen und während des Kalten Kriegs glaubwürdig zu repräsentieren.
Narrative Brüche: Reaktionen auf historisches Versagen
Die Hamletmaschine ist eine Auseinandersetzung mit diesen Brüchen, welche die europäische Geschichte und Gesellschaft nachhaltig geprägt haben. Sie reflektiert das Scheitern der großen Utopien des Sozialismus und der Aufklärung, die angesichts der Realitäten des Kalten Krieges, totalitärer Regime, globaler Verteilungskämpfe und Massenvernichtung in Frage stehen. Fragmentierung, Wiederholung und Verfremdung werden zum Mittel, auf solche Risse in der Weltorientierung zu reagieren. Die tiefen Wunden und die ungelösten Konflikte des 20. Jahrhunderts werden zur Sprache gebracht: Lineare oder harmonische Erzählformen weichen sprachlicher und musikalischer Darstellung, die diese Unordnung und Unberechenbarkeit darzustellen vermag. Wiederholung und Verfremdung in Müllers Text sind somit nicht nur Stilmittel, sondern Kommentare zur psychologischen Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne sie subjektiv zu verzerren. Die Maschine steht für die Weltanschauungen, die in den Katastrophen ihre Unzulänglichkeit bewiesen haben.
Die großen Erzählungen der Moderne wie Fortschritt, Rationalität und Freiheit versagten im 20. Jahrhundert und liegen in Trümmern. Und selbst wenn wir doch in Wohlstand und Luxus gehüllt sind, entlarvt dies wiederum eine Täter:innenschaft in globaler Ausbeutung: „Mein Ekel ist ein Privileg, beschirmt mit Mauer, Stacheldraht, Gefängnis“. Es herrscht die Notwendigkeit, andere Erzählweisen zu finden, um die Komplexität der menschlichen Erfahrung in einer chaotischen Welt adäquat darzustellen. Diese Erkenntnis hinterfragt nicht nur die Macht traditioneller Narrative, sondern auch die Autorität des (europäisch-männlichen) Autors.
Die Hamletmaschine ist nicht nur Adaption, sondern Kommentar zum uralten „Hamletproblem“: ein junger Held erhält inmitten eines politischen Umbruchs seinen Racheauftrag, hat alle Zusammenhänge verstanden und ist trotzdem handlungsunfähig. Das wird zum Grundkonstrukt der unaufhaltsamen, unheimlich-grotesken Maschinerie: Die „Ruinen von Europa“ sind mehr als nur ein krisengeschüttertes dänisches Königreich oder die „Festung Europa“ der westlichen Wirtschaftsmacht. Das grundlegende Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung steht zur Disposition.
Das Bündnis des Komischen mit dem drastisch Grotesken hebt hervor, wie stark postmodernes Theater mit etablierten Ordnungen zu brechen weiß. So lädt Die Hamletmaschine dazu ein, Grenzen zwischen Schein und Sein zu hinterfragen und bleibt der uralten sinnsuchenden Hamletfrage nach Sein oder Nichtsein letztlich treu: „Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt.“
Referenzgewitter
Die unzähligen Bezüge, die Heiner Müller in der Vorlage mal mehr, mal weniger deutlich schlägt, werden in der Partitur von Wolfgang Rihm nicht dechiffriert — vielmehr trägt er Schicht für Schicht weitere Ebenen zu seiner Hamletmaschine auf. Rihms Klangsprache geht nicht immer nur wieder plötzlich in harmonisch-tonalen Momenten auf, die genauso schnell wieder in sich zerfallen, sondern multipliziert Müllers Textzitate um eine Vielzahl musikalischer Fremdmaterialien. Der Trauermarsch des toten Königs kommt mit Versatzstücken aus Beethovens Eroica daher, das „I am Good Hamlet“ treibt die Staatstrauer als „Händel-artiges“ Lamento in drei Strophen grotesk auf die Spitze. Im Scherzo lädt ein Walzer zum Tanz, ein Tonbandchoral der verdächtig nach Bachs O Haupt voll Blut und Wunden klingt, bringt wenigstens den Versuch von Andacht ins große Durcheinander. Inmitten all dessen wiederholt Rihm über alle Akte ständig die Frage vom „Herz essen“ (eigentlich ein Musil-Zitat): Beide Figuren Hamlet und Ophelia, zwei Geschlechter, Täter- und Opferwelt, Theorie und Praxis sind liebes- und beziehungsunfähig, sie können sich nur gegenseitig verzehren.
Während der Hamletdarsteller seine Rolle ablegt, postuliert der repertoirefeste Sänger „Ich bin nicht Hamlet“ auf einer schmachtenden Verschmelzung aus Leitmotiven von Tristan und Walküre, ehe sich der große Aufstandsbericht über Tonbändern von realen Protesten und Massenereignissen entfaltet. Die Außenwelt platzt endgültig in das Opernhaus, wenn die skurrile Medienkritik des „Fernsehn, der tägliche Ekel“-Chores als verzerrter Charleston mit vier Radioapparaten begleitet wird. Das illustre Panoptikum europäischer Geschichtsschreibung verbleibt nicht nur im Text mit Literatur, Dramatik und Politik, sondern verlangt durch seine musikalische Dimension eine szenische und choreografische Weiterführung. Die Unmöglichkeit der Geschichte zeigt sich in der großen Unordnung zahlloser Anleihen und Anspielungen.
Zur Zeit wird hier der Raum
Rihm schreibt in seiner Partitureinen gewaltigen Schlagwerkapparat vor, der nicht nur den Orchestergraben, sondern auch im Zuschauerraum und auf der Bühne platziert wird. In der Kasseler Raumbühne ANTIPOLIS, ausgestaltet von Sarah Katharina Karl wird so ein mit-komponierter Raumklang zum Ereignis, das den ganzen Saal erobert. Folgerichtig fordert eine Inszenierung des Stücks, das mit zahlreichen fantasievoll-unmöglichen Regieanweisungen daherkommt („der Chor wird Architektur“, „[Ophelias] Herz ist eine Uhr“, „Die Lachenden beginnen sich gegenseitig zu verzehren“) die Bündelung aller verfügbaren Kräfte zum sinnlichen, immersiven Totaltheater. Maßgeblich wird die choreografische Arbeit als maschinelles Zusammenspiel linearer Abläufe die vielfältigen Dimensionen von „Zeit“ offenlegen. Optisch multipliziert sich das tobende Referenzgewitter in den vielfältigen Kostümen von Miriam Grimm. Die Live-Videos von Robert Läßig überblenden das Bühnengetümmel mit kriegerischer Weltgeschichte, vergessenen Heldinnen und der verfremdenden Offenlegung von Kameraperspektive und Bildkonsum.
Ophelia stimmt im 5. Akt einen Monolog an, der nach und nach von drei weiteren Sängerinnen als Ophelia-Doubles, dem gesamten Frauenchor und Tonbandzuspielungen von Frauenchören „aus allen Kanälen“ übernommen wird. Die Regieanweisung „Chor: alle sind Ophelia-Doubles“ unterstreicht sein Vorhaben. Ophelia erobert den Raum, ihr Monolog wird überzeitlich, zur vielstimmigen Rauminstallation. Oder, wie Rihm in seinen Notizen schreibt: „Welt als Frau, Frauraum. […] Ophelia überwindet dieses Maschinentum, sie singt, selbst in ihren Doubles, die reiner Frauenklang sind, die den Raum um sie auf- und weiterrücken“.
Erschreckend ist, welche Worte hier zum Klang werden: „Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.“ Die Bestsellerautorin Şeyda Kurt schrieb in einem Text für das Staatstheater Kassel: „Wer hasst, hat noch nicht aufgegeben. […] Weil es zu einer derart hässlichen Welt kein friedvolles Schweigen geben kann. Der Hass interessiert mich dort, wo er mehr ist als ein bloßes Reagieren, wo er sich zu einer schöpferischen Kraft transformiert. Mich interessiert ein Hass, der das, was Menschen entfremdet und entwürdigt, angreift. […] Wenn ich hasse, hört die Unterdrückung zwar nicht auf, aber meine Antwort kann sich verändern, meine Antwortmöglichkeiten.“ Ophelia, die als aufständische Figur im zweiten Akt deutliche Anspielungen auf Ulrike Meinhof birgt, die vor dem Terrorismus in ihrer Privatwohnung vandalisiert hat, wendet sich im Namen der Opfer an die (westlichen) Metropolen, an die Welt der Täter. Nach Anspielungen auf antikoloniale Schriften (Sartre, Conrad und Fanon) ist die abschließende Fleischermesser-Zeile ausgerechnet ein Zitat einer Serienmörderin. Der Grad zwischen schöpferisch-emanzipatorischen Hass und sinnlosem Zerstörungswahn bleibt bis zuletzt ambivalent, ein letztes Bachzitat leuchtet bei Rihm hoffnungsvoll neben einem monströsen Lamentobass auf. Um noch ein letztes Mal mit Heiner Müller zu sprechen: „DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG IST DIE FURCHT DIE ERSTE ERSCHEINUNG EINES NEUEN DER SCHRECKEN.“
in Zusammenarbeit mit Elias Lepper.